Textprobe 
Auszug aus "Der Tag an dem es schneite"

(...) Mit einem stummen Fingerzeig weist uns der Schaffner den Weg zur Zugtoilette. Ja, dort gibt es ein Fenster! Der große, schlaksige Mann öffnet die Toilettentür einen Spalt weit, als die Soldaten plötzlich vom Aufschrei einer Frau abgelenkt werden. Ich erkenne Muttis Stimme! Der Schaffner schiebt uns durch den Spalt und schließt hinter uns die Türe ab. Franz klettert sofort auf den Toilettensitz und schiebt das Fenster hinunter, dann dreht er sich zu mir und flüstert: »Das war doch Mutti, oder?«

»Nein, nein. Das war jemand anderes. Vielleicht die Frau im grünen Mantel. Du weißt schon, die die so hyperventiliert hatte.« Ich glaube mir selbst nicht, doch ich will meinen Bruder nicht beunruhigen. Franz schiebt sich, mit den Beinen voran, aus dem Fenster und landet weich im Schnee. Das dumpfe Knirschen unter seinen Füßen war jedoch immer noch laut genug, dass ich es im Wagen noch hören konnte. Hoffentlich hat es keiner der Soldaten gehört. Ich schiebe nun Anna vorsichtig durch den engen Schlitz und hoffe, dass Franz sie auffängt. Geschafft! »Ich habe sie«, höre ich die gedeckte Stimme meines Bruders flüstern. Nun zwänge ich mich durch die kleine Öffnung, zum Glück bin ich so klein und zierlich, ansonsten wäre ich jetzt vermutlich stecken geblieben. Wir schleichen so leise wie möglich durch den Schnee, weg vom Zug und hinter den Knick neben den Schienen. Plötzlich gibt es einen Tumult im Zug. Die Leute schreien und rufen Namen. Durch die Lichter hinter dem Wagen können wir die Beine unter dem Zug hindurch erkennen. Menschen werden aufgereiht und plötzlich fallen Schüsse! Mein Herz rast. Mein Gott! Was geschieht hier?

»Mutti!«, entfährt es Franz und sofort presse ich ihm meine Hand auf den Mund. »Lauf, Franz«, flüstere ich meinem Bruder ins Ohr und mit eingezogenen Köpfen lassen wir den Zug hinter uns. Zwischen den Bäumen in einem Waldstück kommen wir zum Stehen und Verschnaufen. Mein Herz rast immer noch und die kalte Nachtluft brennt in meinem Hals und der Brust. Anna weint und zappelt auf meinem Arm – ich kann sie nicht mehr halten und setze sie im Schnee ab.

»Haben sie Mutti erschossen?«, fragt mein Bruder weinend und ich sehe den Hass und die Wut in seinem verkniffenen Gesichtsausdruck.

»Nein, bestimmt nicht«, entgegne ich und plötzlich bricht es aus mir heraus. Ich schreie meine Angst in die Nacht hinaus, dem dunkelblauen Winterhimmel entgegen, doch eine Erleichterung stellt sich nicht ein. Ich beginne zu weinen und Franz und Anna nehmen mich in den Arm – wir nehmen uns gegenseitig in den Arm.

Grelles Licht fällt in meine verkrusteten Augen und ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen. Männer in Uniform kommen auf uns zu und mein erster Gedanke ist wegzurennen, doch meine Beine sind taub von der Kälte und der hockenden Position, in der ich gegen den Baum gelehnt geschlafen habe. »Wir sind keine Nazis!«, brülle ich. Auf einmal steht Mutti vor uns und lächelt erleichtert. Verwirrt starre ich die Amerikaner an; ich verstehe nichts mehr. (...)

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